Der Tod gehört zu unserem Leben dazu und die damit verbundene Trauer ist eine Herausforderung. Trauerbewältigung ist ein Prozess, der notwendig ist, um den Verlust im Leben zu integrieren.
Drei Trauerbegleiterinnen sprechen über den Tod und das Leben und geben Einblick in das Projekt “Lebendig trauern”.
Kofler Nadia.
Mair am Tinkhof Gabriela.
Rehmann Ulrike.
Frau Mair am Tinkhof, Sie sind Krisen-, Trauer- und Sterbebegleiterin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Ist der Tod in unserer Gesellschaft noch ein Tabuthema?
Gabriela Mair am Tinkhof: Ja und nein! Ich merke in meiner Arbeit, dass es noch ein Tabu ist, aber ich merke auch, dass immer mehr Menschen anfangen sich damit zu beschäftigen. Auch in der Öffentlichkeit wird öfters darüber geredet, auch wenn sich diese Gespräche vielfach noch auf die Herbstzeit oder Allerheiligen beschränken. Und das ist schade. Einerseits, weil für die Trauernden ein verständnisvolles Umfeld so unglaublich wichtig ist. Andererseits ist Trauer individuell und mit vielen Aufgaben und Herausforderungen verbunden, das schafft man nicht einfach so mal in ein paar Wochen. Ein Verständnis für eigene Trauerreaktionen und Selbstfürsorge sind unerlässlich. Der Tod ist ein Lebensthema und die damit verbundene Trauer darf und soll im Leben Platz finden! Es gibt noch viele andere Verlusterfahrungen, die Trauer hervorrufen und aufgearbeitet werden sollen. So zum Beispiel unerfüllte Lebensträume, unerfüllter Kinderwunsch oder zerbrochene Partnerschaften und Ehen, Krankheiten, Pensionierung, Haustiere, Umzüge…! Auch diese Trauergefühle brauchen im Leben eines Menschen Raum. Wenn mit diesen Verlusterfahrungen bereits offen und bewusst umgegangen wird und wir diese auch unseren Kindern zumuten, wird es leichter, wenn wir um einen lieben Menschen trauern.
Wie wichtig ist trauern im Leben eines Menschen?
Gabriela Mair am Tinkhof: Trauer ist ein Primärgefühl und ist lebensnotwendig, wenn wir eine bedeutsame Veränderung im Leben erfahren, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Um diese Veränderung zu begreifen und ins Leben zu integrieren, brauche ich die Trauer. Unsere Psyche ist ausgestattet mit der Fähigkeit zu trauern, das ist eine natürliche Reaktion auf den Verlust. Deshalb ist es wichtig, dieses Gefühl zu benennen und zu beschreiben. Auch um zu erkennen, welches Bedürfnis im Moment dahintersteckt. Trauer hat sehr viele verschiedene Gesichter: Sie wirft die Frage auf, was brauche ich? Es geht darum sich Schritt für Schritt neu im Leben zu orientieren, eine neue Form der Beziehung zu finden und den Verlust ins eigene Leben zu integrieren. Trauer ist individuell und jeder und jede von uns trauert anders. Trauer lässt sich allerdings auch über eine bestimmte Zeit nicht beachten und verdrängen, aber irgendwann meldet sie sich.
Ein Todesfall hinterlässt nicht nur eine Lücke innerhalb der Familie, sondern verändert das gesamte Familiengefüge. Welche Rituale können wieder Struktur und Gleichgewicht in die Familie bringen?
Gabriela Mair am Tinkhof: Wenn Kinder betroffen sind, ist es wichtig, dass der Alltag – so weit möglich – aufrecht erhalten bleiben soll! Rituale, die zuerst stattgefunden haben, sollen auch noch nach dem Tod eines geliebten Menschen ausgeführt werden, zum Beispiel die gute Nachtgeschichte oder ein Zubettgehen-Ritual. Zudem kann sich die Familie Gedanken machen, welche neuen Rituale in die Familie integriert werden können, so kann zum Beispiel zu einer bestimmten Tageszeit immer eine Kerze angezündet werden oder an einem bestimmten Wochentag eine Geschichte vorgelesen oder das Lieblingsessen vom Papi gekocht werden. Solche Rituale können ganz einfach sein, haben aber eine große Wirkung. Rituale können, müssen aber nicht mit Erinnerungen an den Verstorbenen gekoppelt sein! Es gibt auch solche, die z.B. das Reden erleichtern oder den Selbstwert stärken. Die Teilnahme soll aber immer freiwillig geschehen!
Nadia Kofler: Jeder und jede von uns ist als Individuum in gesellschaftliche Systeme eingebettet und wenn ein Mensch stirbt, schlägt dieser Verlust oft weite Wellen und unzählige Menschen sind mit diesem Tod konfrontiert. Das geht oft weit über die Kernfamilie hinaus. Dieser Mensch fehlt und das System verändert sich damit. Hier ist es wichtig, für jede Person, die mit diesem Tod konfrontiert ist, Verständnis zu entwickeln. Es dauert oft Jahre, bis der Verlust eines lieben Menschen überwunden wird und man mit dem eigenen Leben weitermachen kann. Wichtig ist, dass die verstorbene Person ihren Platz im System behält und gewürdigt wird.
Für den „Bäuerlichen Notstandsfonds – Menschen helfen“ begleitet ihr als Team das Projekt „Lebendig trauern“. Was sind eure Projektziele und wer kann alles daran teilnehmen?
Nadia Kofler: Die meisten Teilnehmenden haben eine schwierige Familiensituation zu bewältigen und da ist es utopisch von großen Zielen oder Wundern zu sprechen. Wir setzen uns deshalb kleine Ziele. So ist zum Beispiel ein gutes Gespräch oder ein gutes Gefühl bereits ein kleiner Erfolg, mit dem die Betroffenen nach Hause gehen können. Teilnehmen können Kinder und Jugendliche von fünf bis 16 Jahren, die eine nahe Bezugsperson verloren haben. Die Kinder und Jugendlichen können alleine kommen oder in Begleitung.
Gabriela Mair am Tinkhof: Es ist uns ein Anliegen, die Familien in ihren Ressourcen zu unterstützen, das ist weniger ein Ziel, sondern ein Vorhaben. Es ist uns wichtig, Familien und Kindern einen Raum zu geben, wo sie sich mit anderen Betroffenen treffen können und sich austauschen. Hier werden Verbindungen geknüpft und gestärkt. Diese ist die Idee hinter dem Projekt „Lebendig trauern“.
Ulrike Rehmann: Wir möchten, dass die Betroffenen wissen, dass sie in ihrer Trauer nicht alleine sind. Viele Menschen, bei denen jemand verstorben ist, fühlen sich einsam und diese Einsamkeit wollen wir ihnen nehmen. Wir wollen sie in ihrer Trauer begleiten. Diese Treffen sind der Raum dafür, in einer Gruppe von Gleichgesinnten Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche auszudrücken und sich auszutauschen. So entsteht Geborgenheit und Sicherheit.
Südtirolweit haben bereits einige Projekt-Treffen stattgefunden. Von welchen Erfahrungen könnt ihr berichten?
Nadia Kofler: Faszinierend bei diesen Treffen ist, dass wir mit einer zusammengewürfelten Gruppe in den Tag starten, aber am Ende des Tages sich eine gemeinsame Gruppe gebildet hat, die Schicksale und Erlebnisse miteinander geteilt haben. Die eigentliche Trauerarbeit passiert an diesem Tag nicht erzwungen oder vorhersehbar, sondern jede und jeder hat die Möglichkeit sich so zu öffnen oder auch nicht, wie es für sie und ihn stimmig ist. Gerade Kinder und Jugendliche trauern anders, als Erwachsene und brauchen deshalb einen kreativeren Umgang mit dem Thema Trauer. Deshalb braucht es auch viel Platz für Spiel und Spaß und vor allem auch Bewegung. Der Tag ist lang und auch anstrengend, denn die Auseinandersetzung mit dem Verlust kostet viel Kraft. Allein schon die Entscheidung, bei so einem Treffen teilzunehmen und den eigenen Gefühlen Raum zu geben, zeigt Wirkung. Wir sind als Team für die Betroffenen da und jeder und jede kann tiefer in die Thematik eintauchen oder auch an der Oberfläche bleiben.
Gabriela Mair am Tinkhof: Ich habe Erfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen gemacht: Eine Situation, die mir hängengeblieben ist, ist ein Spiel mit Figuren, wo Kinder ihre erlebte Situation nachgespielt haben, eine Jugendliche, die über Gruppendynamik eine persönliche Ressource entdeckt hat oder eine Frau, der ihre Wut über den Verlust bewusst geworden ist. Grundsätzlich berührt mich bei diesen Treffen, wie schnell unbekannte Menschen in eine Verbindung kommen und sich Freundschaften bilden können. Ausgehend von einem Schwerpunkthema, das sich mit Gefühlen, Ressourcen, Erinnerungen usw. beschäftigt, versuchen wir, Rituale, Spiele, Kreativität, Entspannungsübungen in den Tag einzubauen und so die Zeit sowohl in den jeweiligen Gruppen als auch alle gemeinsam zu gestalten und damit Trauererfahrungen ins Leben zu integrieren.
Ulrike Rehmann: Ich habe sehr gute Erfahrungen gemacht, sei es mit den Kinder- als auch mit den Jugendgruppen. Die meisten Kinder waren von vornherein motiviert, aber manch Jugendliche:r war am frühen Morgen noch etwas unmotiviert. Das Gefühl ‚ich bin gezwungenermaßen hier‘ war stark spürbar. Umso schöner war es mit anzusehen, wie sie im Laufe des Tages wortwörtlich aufgeblüht sind und mit einem Lächeln im Gesicht dankbar nach Hause gefahren sind. Die Bezugspersonen haben uns im Nachhinein liebevolle Rückmeldungen gesendet, dass sie und ihre Kinder / Jugendlichen sehr begeistert waren.
Wie wurde das Projekt „Lebendig trauern“ bis jetzt angenommen und welche weiteren Treffen sind geplant?
Ulrike Rehmann: Die fünf bisherigen Treffen wurden sehr gut angenommen. Die Teilnehmer:innenanzahl war unterschiedlich. Insgesamt hatten wir bisher knapp über 50 Anmeldungen, pro Treffen im Durchschnitt elf Teilnehmer:innen. Kinder und Jugendliche von fünf bis 16 Jahren, Mütter, Väter, Großeltern und weitere Bezugspersonen. Wir haben je nach Alter der Kinder in Gruppen aufgeteilt: zum Beispiel Kindergartenkinder, Grundschüler, Jugendliche, Erwachsene. Für heuer ist noch ein Treffen in Aschbach (bei Algund) geplant. Für 2026 sind die Termine noch offen.
Kinder und Jugendliche trauern anders als Erwachsene? Was brauchen sie?
Nadia Kofler: Für Kinder ist Ehrlichkeit fundamental wichtig. Als Erwachsene möchten wir die Kinder vor jedem Unheil und jedem Schicksalsschlag bewahren und beschützen, aber das ist nicht immer möglich. Wenn das Schicksal hart durchgreift, dann ist es wichtig, den Kindern gegenüber ehrlich zu sein, damit sie mit dieser Situation umgehen können. Wir beobachten immer wieder, dass Kinder mit einer ehrlichen Antwort sehr gut zurechtkommen. Wir können es den Kindern zutrauen, sich mit dem Thema Trauer auseinanderzusetzen, sie sind stark und sie schaffen das! Wichtig ist, ihnen zuzuhören, sie ernst zu nehmen in ihren Gefühlen und Bedürfnissen. Zudem ist für Kinder Struktur und Sicherheit wichtig ebenso Bewegung, Freiraum und Spaß. Wenn die Situation Zuhause sehr traurig und bedrückend ist, dann tut es Kindern gut, wenn sie einen trauerfreien Raum nutzen können, wo sie Kind sein dürfen.
Gabriela Mair am Tinkhof: Kinder setzten sich nicht hin und reden über ihre Trauer, sondern brauchen das Spiel und die Kreativität dazu. Bei Jugendlichen kann man bereits mehr ins Gespräch gehen. Hier ist allerdings der interaktive Austausch unter Gleichaltrigen sehr wichtig, ev. auch mit einem kreativen Angebot. Da kann über die Musik oder übers Schreiben an der Trauer gearbeitet werden. Bei Erwachsenen kann eine aktive Gesprächsrunde stattfinden, wo gezielt Impulse gesetzt werden. Mögliche Bedenken, an diesen Treffen teilzunehmen, kann ich nachvollziehen. Deshalb möchte ich vorausschicken, dass mit jeder Familie ein Vorgespräch stattfindet, wo Wünsche, Bedürfnisse auch Zweifel und Bedenken geäußert werden können und jeder und jede an diesem Tag vollkommen freiwillig entscheiden kann, was passiert.
Ulrike Rehmann: Die Trauer der Kinder kann man mit dem ‚Hinein- und dem Hinaushüpfen in/aus eine/r Pfütze‘ vergleichen. Die Trauer der Kinder ist sozusagen sprunghaft. Sie weinen und nach kurzer Zeit scheint die Welt wieder in Ordnung zu sein. Kinder können dieses unangenehme Gefühl des Traurig seins nicht für einen langen Moment aushalten. Das ist auch ein Selbstschutz der kindlichen Psyche.
Das Todeskonzept, also die Entwicklung des Todesverständnisses ist bei Kindern noch nicht ausgereift. Aus diesem Grund dauert der Trauerprozess der Kinder über die Jahre gesehen länger als die Trauer der Erwachsenen. Je nach ihrem Entwicklungsstand gehen die Kinder unterschiedlich mit dem Verlust um. Die Trauerbegleitung bei den Kindern findet vorwiegend auf der kreativen Ebene statt.
Bei den Jugendlichen ist das Todeskonzept schon ausgereift. Ihre Trauer kann man – so wie bei den Erwachsenen auch – mit dem Waten durch einen Fluss vergleichen. Sie durchlaufen vier Trauerphasen. Hinzukommt, dass Jugendliche noch sensibler auf Lebenseinschnitte reagieren. Die Pubertät alleine stellt schon eine Krise dar. Die Begleitung bei ihnen findet schon vorwiegend auf der sprachlichen Ebene statt.
Frau Kofler, Sie sind auch Reittherapeutin und setzen Pferde in der Trauerbegleitung ein. Wie können diese Tiere Betroffenen helfen?
Nadia Kofler: Bei unseren letzten Treffen waren auch Pferde dabei und das hat sehr gut funktioniert. Pferde und auch andere Tiere können Trost spenden: Auf ihrem Rücken können sich Betroffene fallenlassen, Pferde spenden Wärme und lassen Berührung zu. Interessant ist die therapeutische Wirkung dieser Tiere, die in der Lage sind Situationen aufzuzeigen, die die Betroffenen oft selbst nicht sehen können oder wollen. Dafür gibt es schöne Beispiele, wie jenes, wo eine Mutter am Rücken des Pferdes saß und die Tochter die Zügel in die Hand genommen hat, um beide über den Platz zu führen. In dieser Familie war der Vater kürzlich verstorben und die Tochter hat die Führung in der Familie übernommen. Solche Situationen zeigen eindrücklich die aktuelle Familienkonstellation und können durch das Bewusstwerden heilend wirken. Da benötigt es auch keine langen Erklärungen im Nachhinein, da die Situation für sich wirkt.
Für das Projekt „Lebendig trauern“ wurden besondere Orte in der Natur ausgewählt. Welche Rolle spielt die Umgebung bei der Trauerbegleitung?
Nadia Kofler: Die Natur ist immer ein Ort der Kraft! Die Natur zeigt uns Bilder, die wir für die Trauerarbeit nutzen können, um Gefühle, Bedürfnisse usw. auszudrücken. Die Natur sorgt zum Beispiel dafür, dass wir den Boden unter den Füßen spüren, dass wir geerdet sind und gut im Leben stehen. Bei einem Verlust haben Betroffene oft das Gefühl, als ob ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen wird. So waren wir bei unseren Treffen zum Beispiel auf einer Alm oder auf einem Bauernhof, wo solche Rituale gut umgesetzt werden können. Wichtig ist, dass die Teilnehmenden sich bewusst sind, dass jeder früher oder später mit dem Thema Tod konfrontiert wird und sie damit nicht alleine sind. Der Tod gehört zum Leben dazu und wir versuchen bei diesen Treffen diesem Thema mit allen Gefühlen Raum zu geben. Es gehört Mut dazu sich alledem zu stellen, aber die Betroffenen sind am Ende des Tages sehr froh sich gemeldet zu haben.
Auch der Körper muss in der Trauerbewältigung unterstützt werden. Welche körperlichen Symptome können bei Kindern und Jugendlichen auftreten und welche Maßnahmen empfehlen Sie als Entspannungspädagogin?
Ulrike Rehmann: Die Symptome sind sehr unterschiedlich, da ist die Palette groß: von Schlaflosigkeit und Alpträumen bis hin zu Ängsten und Bauchweh können auch viele andere körperliche Schmerzen der Trauer zugeschrieben werden. Es kann für Bezugspersonen oft auch schwierig sein, diese Symptome bei betroffenen Kindern bzw. Jugendlichen der Trauer zuzuordnen und die Zusammenhänge zu erkennen.
Bei der Begleitung wende ich sehr gerne Instrumente der Entspannungspädagogik ein, wie zum Beispiel die progressive Muskelentspannung (PME). Hier werden Muskeln bewusst angespannt und dann wieder losgelassen. Ziel ist, eine tiefe Entspannung zu erreichen. Oder auch Traumreisen. Oder auch verschiedene Bewegungsspiele, um den Körper ordentlich in Bewegung zu kriegen. Oder einfach mal Barfußlaufen. Oder tanzen, oder… Danach fällt das ‚ruhige Sitzen‘ dann auch wieder leichter. Methoden, um den eigenen Körper wieder zu spüren, wieder ‚zu sich zu kommen‘ und somit (emotionalen) Stress abzubauen.
TL
Projekt „Lebendig trauern“
Durch das Projekt „Lebendig trauern“ bietet der „Bäuerliche Notstandsfonds – Menschen helfen“ (BNF), eine professionelle und einfühlsame Trauerbegleitung für Hinterbliebene, insbesondere Kinder und Jugendliche im Alter von fünf bis 16 Jahren sowie ihren Bezugspersonen. Infos darüber: www.menschen-helfen.it