Sich vor andere hinzustellen, um zu singen, braucht Mut, weil man beim Singen auch einen Teil seines Innersten preisgibt. Aber Singen ist für den Menschen wichtig. Es dient nicht nur der Geselligkeit, sondern hat eine heilsame und gesundheitsfördernde Wirkung. In Südtirol hat das Singen in Chören einen lange Tradition und doch verliert das Singen bei jüngeren Generationen an Popularität. Die Chöre klagen über Nachwuchsprobleme. Dabei stärkt das Singen die Lebensfreude, das Selbstwertgefühl, hilft Aggressionen abzubauen, Emotionen zu regulieren und fördert die Mitmenschlichkeit.
„Was machen Menschen heute nicht alles, um sich zu spüren, um ihr Wohlbefinden zu steigern? Dabei haben wir unsere Stimme, unser nächstes und kostengünstigstes Instrument, das uns therapeutisch zur Verfügung steht. Wir kommunizieren mit unserer Stimme und beim Singen haben wir eine weit größere Palette an Ausdrucksmöglichkeiten, da uns von der Natur eine gewaltige Auswahl an Tönen gegeben ist. Beim Singen werden viele Emotionen nach außen transportiert. Für unsere psychische Hygiene brauchen wir im Prinzip nur zu singen, denn das Singen ist unmittelbarer Ausdruck unser selbst. Singen berührt uns emotional, es erfordert die eigene Wahrnehmung und Singen in der Gruppe fördert Einfühlungsvermögen und Teamfähigkeit. Gleichzeitig auf sich selbst und auf andere zu hören, also im Innen und Außen zu sein, bringt das befriedigendste Ergebnis hervor“, versichert Agnes Öttl, Lehrerin in der Musikschule Bruneck und musikalische Leiterin des Kirchenchors Dietenheim. „Singen erfreut jene, die es tun, aber auch jene, die zuhören. Singen ist immer ein Gewinn. Für jung und alt. Angesichts der vielen negativen Ereignisse in der Welt tut der Gesellschaft etwas Heiteres, Befreiendes gut. Als Bezirksobmann liegt mir gerade auch deshalb am Herzen, dass sich viele Menschen für das Singen begeistern lassen“, beteuert Rudi Duregger, Pustertaler Bezirksobmann des Südtiroler Chorverbandes und Mitglied im Männerchor Taufers. Im Chorverband Bezirk Pustertal sind gegenwärtig 73 Chöre mit etwa 1.800 Sänger/innen eingeschrieben. „Als Obmann ist es meine Aufgabe einmal im Jahr gemeinsam mit dem Ausschuss eine Vollversammlung abzuhalten. Dabei wird Rückblick auf die Tätigkeit des abgelaufenen Jahres gehalten und Veranstaltungen, die in Planung sind, werden vorgestellt. Großes Augenmerk legen wir im Chorverband auf die Förderung der Gemeinschaft, wie die Aufführung eines Konzertes, an dem alle Mitglieder der verschiedenen Chöre im Bezirk teilnehmen können, oder eine gemeinsame Fahrt mit Besuch eines musikalischen Events. Und wir bieten einmal im Jahr ein Stimmbildungsseminar an“, erläutert Duregger. Die Tatsache, dass wir im Pustertal 26 Gemeinden mit über 70 Chören haben, zeugt vom hohen Stellenwert des Singens, wie auch Alois Gasser, Pustertaler Bezirkschorleiter im Südtiroler Chorverband, bestätigt: „Bei uns hat das Singen eine sehr lange Tradition. In fast jedem Dorf gibt es einen, wenn nicht mehrere Chöre. Jeder unserer Chöre hat mit seinen engagierten und fähigen Chorleiter/innen eine kompetente Führungsperson. Aber wir sind in einer kritischen Lage: Unsere Chöre werden immer kleiner! Unsere Jugendförderung ist sehr stark ausbaufähig. Unsere Chöre im Bezirk müssen gestärkt und Imagepflege muss betrieben werden!“
ZUM SINGEN MOTIVIEREN
„Ist die Förderung ausreichend, bleibt die Leidenschaft zu singen, die allen Kindern eigen ist, erhalten. Das belegen Schulen mit Schwerpunkt Musik, in denen auch Stimmbildung unterrichtet wird. Sie alle bringen mit ihren schuleigenen Chören tolle Klangkörper hervor“, betont Gasser. „Wenn man singen möchte, gelingt es! Als Erwachsener muss man es wollen und bei Kleinkindern müssen Anreize geschaffen werden, sodass sie dem Singen gegenüber positiv eingestellt bleiben. Meine Kinder haben zum Beispiel Sprachen mit links gelernt. Nicht durch besonderen Aufwand, sondern weil sie ihr Gehör durchs Musizieren und Singen sensibilisiert haben. So wie Mathematik Rhythmus und Form ist, hat Sprache Rhythmus und Melodie! Die Ordnung der Natur spiegelt sich in der Musik wider. Leider nehmen die Anlässe ab, in denen in den Familien gesungen wird, und in den Schulen wird dem Singen immer weniger Bedeutung beigemessen. Die Fünftagewoche hat diese Situation nicht verbessert“, beanstandet Öttl. Gasser fügt hinzu, dass generell in den Oberschulen ohne Musikrichtung keine Musikerziehung mehr unterrichtet werde, und dass „es auch in der Grundschule von den Lehrpersonen abhängt, wie regelmäßig gesungen wird. Es sollte in allen Schulen einen Schulchor geben, der von einer speziell dazu ausgebildeten Lehrperson geleitet wird. Der Chor muss ‚konkurrenzfähig‘ sein und ein tolles Angebot bieten. Wenn das Niveau nicht passt, suchen die Jugendlichen das Weite. Das ist bei allen Freizeitaktivitäten so.“
Alois Gasser, Pustertaler Bezirkschorleiter im Südtiroler Chorverband:
„Singen braucht Aufwertung und Chöre brauchen Nachwuchs!“
NACHWUCHSPROBLEME DER CHÖRE
„Nachwuchsprobleme haben fast alle Chöre. Aber es gibt viele Jugendliche, die sich zu Singgruppen bzw. zu Jugendchören zusammenschließen. Diese Chöre sind in der Regel nicht Mitglied beim Chorverband. Auch haben sie manchmal keine lange ‚Lebensdauer‘. Positiv daran ist, dass nicht selten Sänger/innen aus diesen Singgruppen später auf Chöre des Chorverbandes stoßen. Dafür sind wir sehr dankbar“, unterstreicht Duregger. Für die Nachwuchsprobleme der Chöre macht Gasser zwei Schwachstellen verantwortlich: „Unter den Chören untereinander wird schlecht bis gar nicht kommuniziert, und die Ausbildung für angehende Sänger ist lückenhaft oder teilweise gar nicht vorhanden. Wir wollen aber nicht um jeden Preis um Sänger betteln, sondern ein Angebot schaffen, das junge Sänger anspricht. Um die Vernetzung unter den Chören zu verbessern, müssen wir vom Bezirksausschuss mehr auf die Sänger, Chorleiter und Obleute zugehen. Dementsprechend müssen sich jene bei Treffen, Versammlungen und an Diskussionen beteiligen. Nur so können wir in Zukunft Veranstaltungen und Fortbildungen nach den Bedürfnissen der Chöre planen und umsetzten. Regelmäßige Chorleiterstammtische sollten hier künftig Abhilfe schaffen. Wir müssen ‚ein Bezirk‘ werden, nicht nur geografisch.“ „Das Singen verliert heute an Wertschätzung im Vergleich zum Spielen eines Instruments. Hängt es damit zusammen, dass wir eine Leistungsgesellschaft sind und vermuten, dass es keine Leistung braucht, um Singen zu können? Bewiesen ist, dass Singen ein hochkomplexer Vorgang ist, an dem der ganze Körper beteiligt ist. Und selbstverständlich kann man Singen so ernsthaft lernen wie ein Instrument“, betont Öttl. Auch weiß die Musiklehrerin, dass „manchmal Eltern enttäuscht sind, wenn sich der Erfolg beim Singen nicht sofort einstellt, wenn ihr Kind nicht solo, sondern im Chor mitsingt. Kein Instrument, auch nicht das Instrument Stimme, beherrscht man nicht nach einem Jahr Unterricht. Und wer hört, ob eine Stimme einen guten, gesunden Sitz hat oder nicht?“ Duregger sieht auch im vielfältigen Freizeitangebot eine mögliche Konkurrenz für das Singen: “Vielleicht gibt es für die Jugendlichen viel zu viel andere, für sie attraktivere Angebote als das Singen. Und vielleicht ist es reizvoller, ein Instrument zu lernen. Ich bin aber zuversichtlich, dass das Singen generell nicht aussterben wird, somit auch nicht der Chorgesang.“ Zu der mitunter geringen Beteiligung der Chöre bei Bezirksveranstaltungen meint der Obmann: „Jeder Chor im Bezirk hat einen kompetenten Ausschuss, der sich mit viel Fleiß um das Chorleben bemüht. Oft sind Chöre aber mit ihrem eigenen, vielfältigen Programm ausgelastet, sodass für das Mitwirken bei Bezirksveranstaltungen die nötigen Reserven fehlen. Diesem Problem müssen wir gemeinsam entgegenwirken.“
Agnes Öttl, musikalische Leiterin im Kirchenchor Dietenheim:
„Singen ist unmittelbarer Ausdruck unser selbst.“
SINGEN KANN MAN LERNEN
„Singen ist eine Technik, die man erlernen kann. Wir sollten es nicht versäumen in unserem Gehirn rechtzeitig die Fähigkeit des Singens anzulegen, wenn man zu lange damit wartet, kann es schwierig werden“, weiß Öttl. „Als ich damals in jungen Jahren gefragt wurde, ob ich als Gitarrist in einer Tanzkapelle mitspielen wolle, scheute ich mich nicht auch zu singen. Heute singe ich seit über 30 Jahren mit viel Freude im Chor. Singfreudige Menschen allen Alters sollten Mut fassen und sich einem Chor anschließen. Nicht zuletzt hält Singen auch jung und wie es in einer Volksweise heißt: ‚Gib dem Leben an Sinn, liegt die gonze Freid drin‘“, zitiert Duregger. „Beim Singen und Dirigieren gilt: Übung macht den Meister! Ich selbst brauche noch jede Menge Übung, denn sowohl die musikalische, als auch die menschliche Komponente eines Chorleiters kann und muss sich ständig entwickeln und verbessern“, ist sich Gasser bewusst. Das Singen pflegt man am besten regelmäßig bei Stimmbildnern. „Bei der Wahl der Stimmbildner sollte man genau hinschauen, denn mit einer guten Stimmbildung geht auch eine Körperarbeit, Wahrnehmungsschulung und eine ästhetische Bildung einher. Wie in allen Sparten gibt es auch in der Musik gute und schlechte. Eine breitgefächerte Liedauswahl ist wichtig, von Volksmusik über Klassik bis hin zu Jazz und Pop sollte alles vorkommen, damit eine kritische ästhetische Bildung gewährleistet ist. Ungebildet läuft man der großen Masse hinterher und wird zum unkritischen Konsumenten“, räumt Öttl ein.
THERAPEUTISCHE WIRKUNG
„Eine Fülle von Forschungsarbeiten belegt, dass Gesang unser Gehirn, und damit unsere Emotionen beeinflusst und regulierend auf psychische Prozesse wirken kann. Ganz gleich, ob jemand im Chor oder zu Hause unter der Dusche singt. Singen führt zu größerer Ausgeglichenheit, stärkt das Selbstbewusstsein und bringt Lebensfreude“; ist Duregger überzeugt. „Wenn ich Lust habe, zu singen, dann geht es mir absolut gut. Das kann man auch auf Kinder übertragen. Wenn Kinder von sich aus, ganz in Gedanken versunken zu singen beginnen oder Lust haben zu singen, dann braucht man sich eigentlich keine Sorgen über ihr Wohlbefinden zu machen, denn unbewusstes Singen ist Ausdruck des Sichwohlfühlens“, versichert Öttl. „Wenn ich begeisterte Sänger beobachte, sehe ich Genuss in ihren Gesichtern, und Genuss soll ja bekanntlich nicht immer ungesund sein“, so Gasser.
Rudi Duregger, Pustertaler Bezirksobmann im Südtiroler Chorverband:
„Singen macht glücklich, ist gesund und befreit!“
DER POSITIVE EFFEKT
„Das wirksamste Mittel, Menschen für etwas zu begeistern, ist, selbst mit Freude und Begeisterung hinter der Sache zu stehen. Man sollte sich öfter nicht scheuen, dort, wo es sich spontan ergibt, zu singen. Nicht selten macht man dabei die Erfahrung, dass durchs Singen sofort eine fröhliche Stimmung aufkommt“, sagt Duregger. „Die menschliche Stimme ist die natürlichste Art der Tongewinnung, und in einem Chor zu singen bzw. einen tollen Chor zu hören, begeistert. Das geht jedem so. Zumindest kenne ich niemanden, der Chormusik nicht ausstehen kann, nur viele, die sie nicht ausreichend oder überhaupt nicht kennen“, weiß Gasser. „Das Singen ist kein Allheilmittel, und nicht alle haben Freude daran, aber wenn man die Kraft des Singens für sich erkannt hat, dann treten die positiven Effekte ein“, so Öttl und verdeutlicht: „In der Mehrstimmigkeit und der Harmonie in einem Chor zu singen oder sich als Solist/in in den Vordergrund zu stellen, beides ist eine große Herausforderung. Man zeigt etwas von seinem Inneren. Es braucht Mut. Aber wenn wir persönlichen Erfolg haben wollen, müssen wir uns einlassen und manchmal über den Schatten springen. Unser Gehirn belohnt uns dafür sofort mit Glückshormonen!“ (SP)
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