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Stimmiges Konzept

Grundschule St Martin, Gsies

St. Martin in Gsies – Für die Schulgemeinschaft von St. Martin in Gsies war der diesjährige Schulbeginn wohl etwas ganz Besonderes. Nicht allein deshalb, weil ihm eine ungewöhnlich lange schulfreie Zeit vorausgegangen ist, sondern vor allem, weil die SchülerInnen und LehrerInnen in ein brandneues Schulgebäude einziehen durften.

Die neue Grundschule von St. Martin in Gsies kann mit Fug und Recht als Pilotprojekt und vielleicht sogar als eine Art „Modellschule“ beschrieben werden. Zum einen, weil sie Südtirols erstes öffentliches Gebäude in reiner Holzbauweise ist, zum anderen, weil das Konzept sozusagen partizipativ, also durch die Einbindung der Schulgemeinschaft und Dorfbevölkerung, entstanden ist. Vor bereits über zehn Jahren wurden die ersten Gespräche zur Neuentstehung der Grundschule von St. Martin geführt. Die Grundsatzfrage, die bestehende Schule zu sanieren oder durch einen Neubau zu ersetzen, wurde von der Gemeindeverwaltung schon bald zugunsten eines Neubaus entschieden. Nach und nach kam das Projekt ins Rollen: Mit Unterstützung der Gemeindeverwaltung hat Schuldirektor Dr. Josef Watschinger bereits im Jahr 2009 einen Workshop organisiert, bei dem die Schulgemeinschaft, VertreterInnen der Gemeinde, BürgerInnen und ArchitektInnen eingeladen waren, ihre Vorstellungen einer neuen Schule kundzutun und im gegenseitigen Austausch ein gemeinsames Konzept zu entwickeln. Ganze drei Tage lang traf sich diese bunt gemischte Gruppe, um Ideen zu sammeln, festzuhalten und zu einem gemeinsamen Nenner zu bündeln – eine Ideenbörse also, um Schule neu zu denken.

Schule als „Dorf“ im Dorf

Grundschule St Martin, Gsies


Im Workshop wurden Fragen wie „Was brauchen Kinder, damit sie gut lernen können? Wie kann schulisches Lernen gestaltet werden, damit es im Leben umsetzbar wird? Und was bedeutet das alles für den Bau der Schule?“ eingehend beleuchtet und diskutiert. Was dabei herausgekommen ist, waren klare und mutige Ideen, die zusammen ein pädagogisches Profil und ein Organisationskonzept entstehen ließen. In Letzterem wurde die Schule treffend als „Dorf“ im Dorf beschrieben, was bedeutet, dass diese als Abbild der Gesellschaft gesehen werden kann und demgemäß auch handeln muss. Und so wurde das „Dorf“ im Dorf eingebettet: Der Ort, an dem die alte Schule stand und das neue Schulgebäude entstehen sollte, bot vorab schon ideale räumliche Voraussetzungen für die Umsetzung zeitgemäßer pädagogischer Konzepte. Sein Erscheinungsbild wurde dominiert vom Ortszentrum und allem voran von der Kirche mit neogotischem Kirchturm, dem Widum sowie dem Vereins- und Gemeindehaus mit vorgelagertem Dorfplatz. Die neue Grundschule, zwischen Widum und Vereinshaus positioniert, sollte den Dorfplatz einrahmen und zugleich den Ortskern verdichten. Vom Dorfplatz her ist das Gelände eben und steigt nach Nordosten zur Kirche leicht an, es liegt sozusagen am Übergang zum nach Südosten ansteigenden Hang. Man könnte fast sagen, die neue Grundschule fängt den Hang nun auf und schließt das Schulgelände samt Freibereichen mit einer Mauer zum freien Gelände hin stimmig ab.

Konsequent eingesetzte Materialien

Grundschule St Martin, Gsies

Der anfänglichen Aufbruchsstimmung im Jahr 2009 folgten einige Jahre des Stillstands, da die Finanzierung des Bauvorhabens noch ungewiss war. Doch das Projekt bekam neuen Aufschwung und man entwickelte verschiedene Strategien, um die neue Grundschule finanzieren zu können. Vor einiger Zeit wurde es dann konkret: Insgesamt 91 Planungsbüros beteiligten sich am ausgeschriebenen Wettbewerb für den Neubau der Grundschule. In einer Vorauswahl wurden zehn Teilnehmer ausgewählt, die sich anonym mit einem konkreten Entwurf am Planungswettbewerb beteiligt haben. Als Grundlage diente das pädagogische Pflichtenheft, das eine Arbeitsgruppe, gemeinsam mit der Dorfbevölkerung, erarbeitet hatte. Als Wettbewerbssieger ging letztendlich das Planungsbüro „EM2 Architekten“, Arch. Egger Kurt, Arch. Mahlknecht Gerhard und Arch. Mutschlechner Heinrich hervor. Die Ausführung und Bauleitung wurde in Zusammenarbeit mit Arch. Hartmann Tasser von „tasserball architekten“ abgewickelt. Das Projekt wurde als „zeitgemäße Ergänzung der dörflichen Struktur“ entwickelt, stets mit Bedacht auf den bereits gebauten Kontext: klar und einfach in der Grundform, mit Bezug auf die bestehende Bautradition und unter Vermeidung modischer Architekturformen. „Bei der kontextuellen Einbettung haben wir auf ein zeitgemäßes Erscheinungsbild geachtet. Da ist zum einen das Dorf St. Martin mit seinen üblichen Bauten, zum anderen der von Bauernhöfen geprägte Ortsteil mit den alten Typologien ländlichen Bauens“, erzählt Architekt Kurt Egger. So zeigt sich der Massivholzbau heute geradlinig und doch lebendig strukturiert, zur Gänze mit einer Lärchenschalung umhüllt. Die Größe des gesamten Baukörpers, seine Proportion und das Volumen wurden abgestimmt auf den Maßstab der umliegenden Gebäude. Dadurch, dass es zwei Baukörper sind, die zueinanderstehen, wird das große Volumen zudem gebrochen. In diesem örtlichen Kontext sei das ein wichtiger Aspekt, damit nicht Bauten entstehen, die über sich hinauswachsen und somit total aus dem Rahmen fallen, so Architekt Tasser. Auch wenn das Schulgebäude größer ist als die meisten Häuser im Dorfkern, so wird es durch die zwei Baukörper, die unterschiedlichen Höhen und die zwei Satteldächer gegliedert. Schließlich waren sowohl den Architekten als auch Dorfbevölkerung die Einbindung in das gebaute Umfeld und der Ortsbezug sehr wichtig. Genauso wie die möglichst geringe Geländeveränderung und die sanfte Einbettung in den schwach ansteigenden Hang. „Während die Satteldächer eine klare Referenz an die umgebenden Gebäude darstellen, lassen die großen, präzise gesetzten Gebäudeöffnungen auf die besondere Nutzung schließen“, erklärt Kurt Egger weiter. Ganz wesentlich für die Auftraggeber war auch die „Ehrlichkeit“ der verwendeten Materialien. Sie wünschten sich von Anfang an aus Überzeugung ein nachhaltiges und umweltfreundliches Gebäude aus Holz. Diese Überzeugung entstand mitunter auf die Anregung des Forstinspektorates Welsberg hin, die neue Grundschule mit heimischem Holz zu errichten. Diese Idee fand von Beginn an großen Anklang. Da im Gsieser Tal fünf verschiedene Nadelbäume wachsen – Fichte, Lärche, Kiefer, Tanne und Zirbe – entstand zudem die Idee, jeden Klassenraum mit einer anderen Holzart zu gestalten. Dieser Vorschlag aus dem Workshop wurde tatsächlich umgesetzt. Die schöne Idee, ausschließlich Holz aus dem Gsieser Tal zu verwenden, konnte allerdings nur zum Teil umgesetzt werden, nichtsdestotrotz ist bis zu einem gewissen Grad auch der Gsieser Wald in der neuen Grundschule von St. Martin vertreten.

Kluge Wahl

Grundschule St Martin, Gsies


„Sich für Holz zu entscheiden, war eine kluge Wahl. Holz wird häufig als Hoffnungsmaterial für eine bessere Welt genannt“, sagt Hartmann Tasser. In der Tat ist Holz ein nachwachsender Rohstoff, ein aus Sonnenenergie erzeugtes Material, das der Atmosphäre CO2 zu seiner Entstehung entzieht und in sich speichert. Zudem ist Holz gut entsorgbar und verbraucht in der Verarbeitung weitaus am wenigsten Energie im Vergleich zu anderen Baustoffen. „In einer Region, in der Holz in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht, ist das Errichten eines Holzhauses die umweltfreundlichste Art des Bauens. Weite Transporte von Baumaterial sind so vermeidbar. Holz ist leicht zu bearbeiten und daher auch von kleineren lokalen Handwerksbetrieben in hoher handwerklicher Perfektion zu verarbeiten. Hier schließt sich der Kreis der regionalen Wertschöpfungskette“, erklärt der Architekt. Auch in diesem Sinne wurde der Schul-Neubau von St. Martin in Gsies zu einem Vorzeige- und Pilotprojekt hinsichtlich nachhaltigen und ökologischen Bauens im ländlichen Kontext. Nachhaltig bauen kann man zwar auf mehrerlei Weise, egal, ob es sich um ein Haus aus Ziegelsteinen oder ein Haus aus Holz handelt. Nichtsdestotrotz gibt es Argumente, die im individuellen Fall für den Holzbau sprechen. So werden Holzhäuser – wie es am Beispiel der Grundschule von St. Martin gut ersichtlich ist – längst nicht mehr nur als Ein- und Mehrfamilienhäuser, oder als Blockhaus erbaut, mittlerweile sind die vielfältigsten Gebäudedimensionen und Gestaltungsvarianten möglich. Meist ist auf den ersten Blick gar nicht mehr zu erkennen, ob es sich um ein Holz- oder Steinhaus handelt. Ein Hauptargument für die Holzbauweise ist die behagliche Wohnqualität und die Nachhaltigkeit, die der Baustoff Holz per se bietet. Bezüglich Energieeffizienz steht das Holzhaus anderen Bauweisen auch in nichts nach, besonders Vollholz erreicht so gute Dämmwerte, dass teilweise auf zusätzliche Dämmung verzichtet werden kann. Zudem strahlen Vollholzwände keine Kälte ab, wodurch ein angenehmes Raumklima erzeugt wird. Auch in puncto Stabilität stehen Massivholzbauten Gebäuden anderer Bauweisen in nichts nach. Holzhäuser lassen sich übrigens gut als Fertigbauten realisieren, und zwar als ein- oder mehrschalige Massivholzwände oder zugeschnittene Blockbohlen, die auf der Baustelle zum Haus zusammengefügt werden. Dies hat den Vorteil, dass das Holz im Trockenen bearbeitet wird und erst zum Aufbau auf die Baustelle kommt. In dieser Phase müssen die Bauteile noch vor schlechter Witterung geschützt werden. Überhaupt ist es beim Holzbau sehr wichtig, das Haus so zu planen, dass Regen und Wasser nicht an empfindliche Stellen herankommt und insgesamt gut abfließen kann. Das ist überaus wichtig, denn Feuchtigkeit, die nicht entweichen kann, ist bekanntlich der größte Feind des Holzes.

Zahlreiche Funktionen
Das neue Schulgebäude hat zahlreiche Funktionen. Deshalb galt es zunächst, das Augenmerk auf diese zu richten, aber gleichzeitig die Räume so wenig spezialisiert wie möglich zu gestalten, damit es viel Spielraum gibt. Wenn man das Gebäude als „Dorf“ betrachtet, dann gibt es die Kita, eine Mensa, die kombinierte Bibliothek, das Atelier und eine Werkstatt, die zwar für die Schule angedacht, aber auch für Vereine und Organisationen nutzbar sind. Durch dieses Funktionsschema haben mehr Menschen einen Nutzen davon – eben weil das Gebäude nicht ausschließlich für schulische Zwecke genutzt wird. Im Schulbereich wurde das Bild des „Dorfes“ dahingehend interpretiert, indem verschiedene Raumangebote geschaffen wurden, sogenannte Innen- und Außenräume. „So gibt es Räume, in denen sich Lerngruppen zurückziehen können und konzentriertes Lernen möglich ist – vergleichbar mit den Privathäusern eines Dorfes – aber es gibt auch Freibereiche, wo bewegtes Lernen und der Austausch mit Schülern aus anderen Lerngruppen möglich ist, etwa bei Gruppenarbeiten. Diese Bereiche sind mit dem öffentlichen Raum eines Dorfes vergleichbar“, beschreibt Architekt Hartmann Tasser die Idee, die dahinter steckt. Die Klassen sind also in eine offene Lernlandschaft eingebettet. Flexibilität war aber nicht nur bei der Raumnutzung gefragt, sondern auch bei der Einrichtung. Möbel und einzelne Elemente davon sind flexibel einsetzbar und können immer wieder neu eingeteilt oder umfunktioniert werden. Auf alle Fälle ist die Atmosphäre, die im Schulgebäude heute herrscht, eine ganz besondere. Sicherlich schon allein durch das Material Holz an sich, aber auch durch die verschiedenen Raumeindrücke. Durch die Nischen und verschiedenen Blickpunkte eröffnen sich immer wieder neue Perspektiven. Und sogar der Pausenhof wurde als eine Art Naturraum gestaltet, der durch unterschiedliche Materialien und Oberflächen – etwa Schotterplätze, Wege, Bäume, Sitzkreise – kreatives Spielen ermöglicht. Insgesamt ist es ein durch und durch gelungenes Projekt und ein exemplarischer Schulbau, sei es durch die Materialität und der ökologischen Komponente sowie durch das pädagogische Konzept. Insofern hat es einen gleich doppelten Einmaligkeitscharakter. „Dieser Vorzeigebau wurde nur dank der guten Zusammenarbeit vieler einzelner Menschen – zwischen Schule und Gemeinde, der Forstdirektion und der Bevölkerung, Planer und Behörden – möglich. Das Ergebnis spiegelt die Arbeit und das Engagement aller Gruppen wieder“, betont Architekt Kurt Egger abschließend. (SH)